Kunst und kulturelle Identität. Materialien und Untersuchungen zur europäischen Auseinandersetzung mit fremder Kunst. 1550-1850
Günter Herzog
Herzog, Günter, Kunst und kulturelle Identität. Materialien und Untersuchungen zur europäischen Auseinandersetzung mit fremder Kunst. 1550-1850, habilitation, université de Cologne, 1998.
Résumé du texte
Wie kann es sein, dass im heutigen Kunstsystem der Kunstcharakter eines Urinierbeckens (Duchamps "Fontaine") oder eines Fettklumpens (Beuys’ "Fettecke") außer Frage steht, während den zeitgenössischen Werken australischer Aborigines bis vor wenigen Jahren noch der Zugang zur Kölner Kunstmesse "Art Cologne" mit der Begründung verweigert wurde, sie seien keine Kunst? Sind die Dan-Masken, die Picasso in seinen Gemälden rezipiert und die Arman in Polyester gegossen hat, Kunst, oder waren sie nur Rohmaterial für die Herstellung von Kunst? Gibt es tatsächlich einen "Dialog der Kunstwelten", oder gibt es doch nur die eine europäisch beziehungsweise westlich geprägte Kunstwelt? Antworten auf diese und andere Fragen ergeben sich im Verlauf einer historischen Betrachtung, beginnend in der Renaissance, als die ästhetischen Normen des abendländischen Kunstsystems erstmals festgeschrieben wurden. Bis ins 18. Jahrhundert hinein bestimmten diese Normen, die ausschließlich an der vorbildhaften Antike orientiert waren und für "natürlich" gehalten wurden, die Identität der europäischen Kunst und damit zugleich auch deren Differenz. Das heißt, sie bestimmten nicht nur, wie Kunst zu sein hatte, sondern ebenso, was keine Kunst sein konnte. So war die Kehrseite der radikalen "neu-antiken" Identitätskonstruktion der Renaissance die Differenzkonstruktion des Mittelalters als einer "finsteren Zwischenzeit", deren Kunst nun als "barbarisch" disqualifiziert und trotz ihrer allgegenwärtigen Präsenz vorsätzlich der eigenen Kultur entfremdet und fortan aus der Geschichtsbefassung ausgegrenzt wurde. Auf der Basis zeitgenössischer Quellentexte werden die seit der Renaissance entwickelten kulturellen Wahrnehmungs- und Verstehensvoraussetzungen und die Befassungsmuster für die Auseinandersetzung mit der antiken und "neu-antiken" eigenen Kunst ermittelt und analysiert und mit jenen für die Auseinandersetzung mit differenter Kunst verglichen, zu welcher neben der mittelalterlichen, nach den großen "Entdeckungsreisen" des 16. und 17. Jahrhunderts mehr und mehr auch die außereuropäische Kunst gezählt wurde. An einer Vielzahl von bisher unbekannten oder nur schwer zugänglichen literarischen und bildlichen Quellen können durch die Jahrhunderte hindurch verschiedene Einstellungen zu differenter Kunst belegt werden: ihre Ablehnung und Abwehr, ihre Anerkennung und Akzeptanz sowie Strategien zur Bewältigung von Differenz wie Assimilation und Integration.